Kurt Dattingers Apodiktum 


  Kommentare zu Zeitläuften abseits von DattiSports

(Folge 9)

 Von des Weltatems wehendem All

 

 

    Die Vertonung galt mir von jeher als die natürlichste, beinahe die notwendige poetische Bekräftigung des Worts. Dieses für sich ist ja bereits Laut und Klang. Und seine Fügung erst zu syntaktischem Gebilde, zum Satz, erzeugt, wenn mit Verständnis komponiert, stets eine Melodie. Diese Veranlagung des Worts zum musikalischen Ausdruck wird durch seinen Gesang dann ganz vollendet.

„Meine Mutter hat mir erzählt, im ‚Tristan’ habe vor ihr eine ältere Dame gesessen, die nach dem Fallen des Vorhangs, nach Isoldes Liebestod, tränenüberströmt zu ihrem Begleiter gesagt habe: ‚Ja, ja, so ist das Leben.“

Also weiß der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer in einem Büchlein zu berichten, das mir unlängst beiläufig in die Hände fiel. Das hat alte Erinnerung geweckt, frohgemute Erinnerung. Daran, wie auch mir Richard Wagners magisches Denkmal auf die Liebe, dieses, nach Oswald Spenglers Worten, "eigentliche opus metaphysicum des Abendlandes" große Rührung abrang, so groß, dass des Knaben Träne floss.

"In des Weltatems wehendem All", hieß es darin, soweit ich mich erinnere, zuletzt und endgültig, "In des Weltatems wehendem All ertrinken, versinken, unbewusst - höchste Lust" ...

Scheiße noch mal: Ich wusste nicht, was das genau bedeute, und weiß es noch nicht. Wahrscheinlich tut das niemand. Wer freilich je die Musik zu diesem sonderbaren Wortgedicht gehört hat, mit wehenden, scheinbar wirklich die Welt ganz atmenden Streichern, so schön, dass sie höher sind als alle Vernunft, dem muss die Größe dieser Kunst wie ihre geheimnisvolle Botschaft, unbegreiflich aber doch deutlich, ahnen.

Versunken indes in lang vergangenen Zeiten, solchen meines Lebensalters sowohl wie solchen der Geschichte, sind diese erste, juvenile Schönheitssucht beziehungsweise ihr begehrenswerter Gegenstand, Wagners zaubervolles Musiktheater.

Wohl konnte ich nachher noch einige gemäßigte Zuneigung fassen für dieses oder jenes gesungene Wort. Die erste, große Liebe blieb aber lange unerreicht.

Nicht wenige Jahre dauerte meine Suche nach einem Kunstwerk, das mir gleich viel bedeuten sollte, und ich hätte nicht hoch darauf gewettet, dass sie fündig werden sollte in proletarischem Milieu.

Dort denn stieß ich aber in einer Ballade auf ein Wort, das mich sofort ergriff. Es hieß bloß: "Geister waren in den Augen aller Burschen, die du zurückgewiesen hast." Dies Wort war gedichtet und vorgetragen von einem Jüngling, kaum älter als zwanzig Jahre, mit heiserer Stimme. Gesungen und von Tönen begleitet in einer Weise, die genauso unerklärlich wunderbar über den schlichten Wortsinn hinausdeutete, wie es Wagners Streicher getan hatten. Ich spielte das Lied sogleich von neuem an, griff zum Textbuch und las erstaunt: "Thunder Road".

Die Passion für die Liedkunst des amerikanischen Sängers Bruce Frederic Joseph Springsteen begleitet mein Leben seither, seit ich ihrer solcherart zuerst gewahr wurde und sie mir zu erobern, sie mit Erkenntnis zu durchdringen begann. Ich sage bewusst: gewahr wurde. Denn beiläufig gekannt hatte ich, wie wohl jeder Generationsgenosse, die verbreiteten Volksprodukte dieses Künstlers längst. Und sie bedeuteten mir rein gar nichts und tun es bis heute nicht!

Das Lied „Thunder Road“ aber weckte ein aufmerksames Interesse, eine entschiedene Überzeugung davon, dass ich diesen Künstler ungerecht verkannt hatte.

Aufmerksamkeit fordern die geheimen Lieder Springsteens allemal von ihrem Hörer, wie überhaupt alles wahrhaft Schöne sich niemals anbiedert, nie auf die Schnelle öffnet, sondern erkannt und erforscht werden will. Diese Lieder sterben unweigerlich, wenn man nicht von ganzem Herzen mit ihnen sich beschäftigt, sich auseinandersetzt mit ihrer rauen Wortpoesie und ihrem wunderbaren Timbre.

Was ich Springsteens weithin einfach bestellten Liedern als Lernender, Bestärkter, Getrösteter verdanke, kann ich nie vergessen, nie die Stunden tiefen, einsamen Glücks, Stunden voll der Schauern der Nerven und des Verstands, voll der Einblicke in rührend-kleine und wohl auch große Bedeutsamkeiten, wie eben nur diese Kunst sie mir gewährt.

Und es ist allein einer gesunden Realvernunft gedankt, dass ich immer noch genau zu unterscheiden weiß meine so aufgeregte Liebe zu ihm, dem Werk, von der schlicht empfundenen Dankbarkeit an ihn, den fremden Künstler.

Solch untrügliche Trennung der Gefühle für das Werk von jenen für den Menschen, der es hervorgebracht, wird von Springsteen sehr erleichtert. Sie wird gefördert von seiner wohltuenden Verweigerung aller billigen Prominenz, durch seine Abwesenheit von beziehungsreicher Gesellschaft und prätentiösem Zusammenhang.

Meine Neugier nach seinen Liedern ist nie müde geworden, ich bin nie dessen überdrüssig geworden zu belauschen, zu bewundern, aber auch zu überwachen –  nicht ohne Misstrauen gegen das Populäre, das Gemeine, das dieser Kunst oftmals unverkennbar anhaftet.

Ich halte Springsteens Werk für eines der großartig-fragwürdigsten, vieldeutigsten und faszinierendsten Phänomene der Populärkultur. Mein Gott, hat der Mann nicht auch grottenschlechte Lieder geschrieben! Und wie könnte es anders sein: Es sind darunter viele jener Produkte, die einem größeren Publikum bekannt wurden.

In fast peinlicher Rechtfertigungsnot vor dem  gestrengen elterlichen Gebot zu Minderheit sowie Ablehnung alles Massenhaften und verbreitet Erfolgreichen fand ich mich zuerst und bin bis heute irritiert darob, dass der Mann ganze Stadien füllt.

Beruhigung gibt mir hierin allein, dass immerhin jene Masse, die tatsächlich jeden Dreck annimmt und konsumiert, selbst von Springsteens notorischem Werk kaum Notiz nimmt, das anspruchsvolle Opus aber, das vollends unnachgiebig ist gegen die Bedürfnisse des Kommerz, ignoriert, es überhaupt nicht kennt oder, wenn doch, verkennt. Wohl wird aus Reverenz vor dem, den sie ganz unpassend den "Boss" nennen, im Dudelfunk hie und da ein Lied gespielt, eines jener Lieder, die er selbst als "party music" zu denunzieren pflegt. Gottlob freilich selten genug!

Auch der Verdacht des Epigonalen verunsichert naturgemäß jeden, der das Originäre sucht, das Wurzelhafte. Aber dann: Ist Mozart denkbar ohne Haydn, Bruckner ohne Wagner? So undenkbar Springsteen ohne Dylan ist, so sehr hat er diesen doch nicht bloß kopiert, sondern auf ihm mit ungeheurer Gestaltungskraft aufgebaut.

Am Ende unterlagen die Zweifel, Einwände, Beanstandungen also immer noch der Begeisterung, der Verheißung, der Liebe, der Magie.

Dieser Tage besteht günstige Gelegenheit dazu, die beglückende Faszination, von der hier so salbungsvoll und langwierig die Rede ist, für sich selbst neu zu erfinden: Mit dem Album „Devils & Dust“ schenkt Springsteen uns eine Sammlung von Liedern, die ausnahmslos ein kleines Wunder in sich tragen, ein Mirakel, das es freilich je und je mit konzentrierter Zuwendung erst zu entdecken gilt. Wie sagte er einmal selbst so treffend: „You gotta work at it!“ Unbedingt empfehle ich den Versuch.

Im Wiener Praterstadion übrigens, darin Bruce Springsteen vor bald zwei Jahren zu einer seiner eigenartigen Liturgien bat, stand unmittelbar vor mir ein wohl gut 40-jähriger Mann, dem Habitus nach ganz roh und ungesittigt, ein Rocker, wie man so sagt. Nach einem Lied, es war „Empty Sky“, drehte er sich kurz um, wodurch mir ein knapper Blick auf sein Gesicht gewährt wurde: Es war tränenüberströmt. Ja, ja, so ist das Leben.

Graz, im Mai 2005

Kurt Dattinger eh.

Hier findet man eine kongeniale Interpretation des Initiationslieds "Thunder Road".

Beitrag nochmals vollständig durchgesehen im Dezember 2007. Lesen Sie das geschichtlich authentische Dokument hier!