Kurt Dattingers Apodiktum

 Kommentare zu Zeitläuften abseits von DattiSports

(Folge 10)

 Abschreiben auf höherer Ebene 

 

 

   Treue Leser des Apodiktums, dieses periodischen Aufschreis aus unserer Belanglosigkeit, in Wohlstand verwahrlost, haben es längst geahnt, kritische Lektoren schon gerügt, woraus ein Hehl zu machen, der Autor dieser Kolumne sich freilich gar nie anschickte:

Wiederschriften auf schon gebrauchtem Pergamen sind sie bloß, die hier veröffentlichten Texte. Sie sind Palimpseste sozusagen, aus deren Hintergrund bisweilen die unsauber nur verwischten Sätze von ehemals noch hervorscheinen, fremde Schriften, welche den unbeholfenen Krakeln, von mir in ehrlichem Bemühen darüber gesetzt, erst eine vervollständigende Anmut zufügen.

Gar nicht bitter, aber in froher Gewissheit dessen, mit dieser eigenartigen Wiederbelebung des Wortezaubers eines andren das Rechte, mit dieser Tradierung einer fremden Literatur an eine neue Leserschaft, meine Leserschaft, ein Nützliches zu tun, bekenne ich offen:

Wenn jemals in hiesigen Zeilen ein Schimmer von Schönheit gliss, wenn die Worte zutrafen und gelangen, wenn sie irgend jemanden in seinem Inneren berührten, ihn abstießen oder anzogen, erheiterten oder beschwerten, dann hatte neben mir, dem Dattinger, auch er seine Hand mit im Spiel, er, der am zwölften dieses Monats seit einem halben Jahrhundert verewigt ist: Thomas Mann.

Bin ich also nichts anderes als ein billiger Plagiator? Bin ich ein abgehalfterter Epigone? Keineswegs! Es ist schlicht die schiere Überlegenheit des Pouvoirs von Thomas Manns Prosa über alles andere Faseln deutscher Zunge, es ist dies überwältigende Zutreffen der Worte, das mir ein anderes und, indem es anders wäre, an Vermittlungskraft sofort unbedingt unterlegenes Ausdrücken zuwider und unmöglich gemacht hat.

Einem Irrtum gilt es freilich sogleich vorzubeugen: Ich blättere den Worten Thomas Manns durchaus nicht nach, wenn ich schreibe oder rede, ich brauche sie nicht zu recherchieren. Nein, ich kopiere nicht, bei offen gehaltener Buchvorlage gleichsam.

Vielmehr ist diese Sprache, seit ich ihr ganzes Vermögen vor Jahren, in Zeiten der für Schönheit so empfänglichen Mannreifung, für mich erfuhr, ganz natürlich in mir da - denkbestimmend und gefühlslenkend, sinnstiftend und herzenswahr.

Sie erst eigentlich hat mich dazu befugt, mir einen immerhin näherungsweise gültigen Begriff von der Welt und von mir selbst zu machen.

"Tonio Kröger", beispielsweise, hatte seinerzeit meine pubertäre Verunsicherung getröstet. Er spielt heute, nach neuerlicher Lesung, keine Rolle mehr zwar, bleibt aber lebensbedeutend immerdar.

Die "Buddenbrooks" haben mich gelehrt, dass Scham nichts Beschämendes ist, sondern liebenswürdiges Herzenszeichen.

Aus "Doktor Faustus" habe ich nicht nur das Wesen der Intoxikation der Völker durch den Faschismus gelesen, sondern auch mehr über meine seltsam innig-distante Liebe zu einem seit Kindesbeinen treuen Freund erfahren, mehr, als ich aus eigenem, also ohne Thomas Manns Versprachlichung, herauszufinden imstande gewesen wäre.

Und "Der Zauberberg" hat meine Unrast, mein Drängen zu übermäßiger Lebensbewährung heilsam besänftigt, wenn nicht gar eine heitere Verachtung für den Tod mir gegeben.

Thomas Manns Sprache war, so fand ich, in allen diesen Belangen - und nicht nur in diesen - präzise und poetisch zugleich, leuchtend-klar und magisch, dabei niemals ungefähr, sie war analytisch und narrativ und - vor allem andern - sie war vollkommen musikalisch.

Die Freude daran, an der bloßen Existenz eines so schönen Kunstwerks also, welches das Leben und seine Bedingungen überdies so treffend beschreibt, hat mir ein sonderbar diesseitiges, gar nicht mystisches Gottvertrauen geschenkt, hat alle Selbstabschaffungsgefährdung in mir vereitelt."Man soll dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken", schrieb der Zauberer einmal einem Freund.

Bei solcher Verwandtschaft des Verstands und der Seele muss mein Denken und Wortfinden stets ein Abschreiben sein, ein, wie es übrigens auch Thomas Mann selbst für sein eigenes Schriftsetzen als Methode einbekannte, "Abschreiben auf höherer Ebene"...

 

Doch halt! Genug mit diesen geraunten Intimbekenntnissen eines Liebenden, die wenig nützlich sind für ein Publikum und zu dessen Überdruss auch noch bar sind aller wenigstens unterhaltsamen Ironie!

Was gehen mich diese indiskreten Privatbefindlichkeiten an, fragt der Leser. Was ist nun eigentlich, abgesehen von dem Anlass der runden Wiederkehr eines Todestags, das im Allgemeinen beachtliche, das informative Anliegen dieser Epistel, forscht er zurecht. Zu welchem Ende wird man hier vom Dattinger behelligt?

Nun, das will ich ihm, dem fragenden Leser, wohl sagen, auf dass er geneigt bleibe:

Warum geht uns alle Thomas Mann schon als Person auch heute noch an, dieser gnadenlose Egozentriker, der als Mensch im Privaten zum Vorbild so wenig taugt?

Zum Beispiel weil ihm, der nicht mosaischen Glaubens noch sonst angeblich "rassisch minderwertig" war und übrigens auch alles andere als ein politisch Linker, im März 1932, lange bevor der polnische Ort Oswiecim, weltweit geläufiger als Auschwitz, furchtbare Bedeutung erlangen sollte, von einem Reporter auf Adolf Hitler angesprochen, der Satz entfuhr: "Mit einem, freilich starken Wort, kennzeichne ich Hitlers Einfluss: Er ist verbrecherisch."

Oder weil er schon im Oktober 1930 in seiner "Deutschen Ansprache" vorausgesagt hatte, dass eine nationalsozialistische Regierung ihren rassenhygienischen Verbrechensunfug durch "zehntausend Ausweisungen und Reinigungsexekutionen zu verwirklichen" suchen würde, wobei er dringlich an das deutsche Bürgertum appellierte, den "neuen Barbaren" entgegen zu treten.

Dies sprach wohlgemerkt, der noch in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" von 1918 ein geradezu chauvinistisches Deutschtum, natürlich auf unübertrefflich literarischem Niveau, vertreten hatte. Was zeigt uns dies?

Dass es ein größeres Verdienst ist, die eigene Meinung von ehedem angesichts der Absehbarkeit ihrer schrecklichen Folgen zugunsten einer neuen Haltung zu verwerfen, als es ein Verdienst ist, von Anfang richtiger Auffassung gewesen zu sein.

So anerkennungswürdig die politisch linke Gegnerschaft des älteren Bruders, Heinrich Manns, gegen die Nationalsozialisten also gewesen ist, umso bewunderungswürdiger war die Bereitschaft des jüngeren Thomas, des rechten Bourgeois, zur Distanzierung von einer politischen Haltung, die ihn zur Parteigängerschaft mit jenem neuen Regime beinahe vorherbestimmt hätte. Konsequent hat er denn auch die unzähligen Versuche der Vereinnahmung seiner Person durch diese gottlosen Barbaren der Moderne von allem Anfang an abgewehrt.

So viel, nein: eigentlich so wenig zur Person. Wie aber verhält es sich heutzutage mit dem künstlerischen Werk Thomas Manns?

Dazu gilt es, mit heiligem Ernst zu plädieren gegen ein weitläufiges Vorurteil. Es muss heute, mehr denn je, gesteuert werden gegen die verbreitete Ignoranz, welcher Thomas Manns Werk unter den Zeitgenossen zunehmend begegnet. Es ist die Pflicht des Überzeugten, zu wehren gegen ein Verkommen eines so lebendig-vielsagenden Bedeutungsquells ins staubig Museale. Thomas Manns Werk darf nicht bloß aus akademischer Distanz von ergrauten Professoren doziert werden.

I wo! Manns Geschichtenbücher und seine Essays sind alles andere als antiquiert, betulich und schwermütig, sie sind weder hypertroph noch gewichtig, auch nicht gehemmt oder gar dekadent. Dieses Erzählen ist nicht nachtgeboren - weder im übertragenen noch im wörtlichen Sinne übrigens, schrieb Mann doch so gut wie ausschließlich vormittags.

Die Geschichten Thomas Manns sind, nur bemerken dies viele Leser vor lauter Ehrfurcht nicht, gar nicht pathetisch, sondern ein einziger zärtlicher, nicht selten auch beißender, niemals aber brutaler Witz.

Das Werk muss mit Bereitschaft zur Ironie wahrgenommen werden, um seine ganze, nie veraltende Wirkungsmacht zu entfalten. Wird es richtig gelesen, dann verhilft seine humoristische Kraft zu einer seltsamen Rührung und Zuversichtlichkeit, deren Entstehungsgrund nicht leicht zu erklären ist:

Es dürfte wohl die unentwegte Brechung der Zuneigung des Autors für das Personal seiner Geschichten in die für Thomas Mann typische feine Ironie sein, welche sympathische Belustigung jedes kitschige Pathos abwehrt und just damit unserer Seele jenes Gefühl der Peinlichkeit erspart, das sie vielfach fühlt, wenn sie sich bei allzu großem Sentiment ertappt.

Wir haben es bei Thomas Mann im Grunde also mit einem Humoristen zu tun. Witz, Parodie und Satire beherrschen bei ihm stets die Tragik, gehen mit dieser eine geistreiche Beziehung ein.

Und die Pointen sind unvergleichlich.So findet sich im "Zauberberg" etwa auch eine Begebenheit, die dem so genannten "Helden" Hans Castorp, einem homo technicus von schlichtem, aber gesundem Gemüt, unter dem Abschnittstitel "Fragwürdigstes" widerfährt.

Das erzählte Geschehen, das von einem allerdings lachhaften Versuch der Provokation übersinnlicher Kräfte durch die landläufig als "Tischerlrücken" bekannte Methode handelt, nutzt Thomas Mann zu einer grandiosen Abrechnung mit aller Esoterik. Hier wird, sehr zur Schadenfreude jedes Lesers, der sich zu Realität und Naturwissenschaft bekennt, in unübertrefflicher Weise vorgegangen gegen Astrologie und Transzendenz, gegen Übersinnliches und ähnlichen Firlefanz.

Und während der Leser sich noch sicher wiegt in seinem mit dem Autor und dessen Helden ganz offenbar geteilten Vergnügen an der eigenen aufgeklärten Überlegenheit, an der heiteren Denunziation der Scharlatane, geschieht auf einmal Unglaubliches. Und zwar...aber lesen Sie doch selbst...lesen Sie unbedingt selbst!

 

Graz, im August 2005

Kurt Dattinger eh.

 

Post scriptum: Den Eltern mit Dank dafür zugeeignet, dass sie die Aufmerksamkeit des Kindes auf die wahrhaft schönen Hervorbringungen des Menschen zu lenken wussten und ihm solcherart ihre ganze verächtliche Gleichgültigkeit für die Symbole des Status übergeben haben. 

Fernsehtipps:

Einmaliges Revival der vor Jahren eingestellten, interessantesten und amüsantesten deutschsprachigen Talk-Show aller Zeiten "Das literarische Quartett" mit Marcel Reich-Ranicki & Co zum 50. Todestag von Thomas Mann, ZDF, Mi 17.8.2005, 22.15 Uhr

"Die Manns - Ein Jahrhundertroman", Spiel-Dokumentation von Heinrich Breloer (ua) mit Armin Müller-Stahl, 1.Teil, ORF, Mo 15.8.2005, 23:30 Uhr

Hörbuchtipps:

Alles von Gert Westphal Gelesene, von "des Dichters oberstem Mund" (wie Katia Mann sagte) 

"Thomas Mann - Erzählungen" gelesen von Will Quadflieg, Deutsche Grammophon Literatur (2005)

Buchtipps:

"49 Fragen und Antworten zu Thomas Mann" von Thomas Klugschiss..äh..Klugkvist, S.Fischer (2003)

"Thomas Mann und die Seinen" von Marcel Reich-Ranicki, DVA (2005)

und natürlich die Bücher des Zauberers selbst...

 

Beitrag nochmals vollständig durchgesehen im Dezember 2007.