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Der Dattinger liest

Der Dattinger liest

in memoriam Gert Westphal

 

    Alle Literatur ist letztlich Hörwerk. Schon das intime Lesen eines Texts verleiht diesem stets eine eigene, freilich innere Stimme. Diese Fähigkeit des Menschen, sich aus puren Wortezeichen einbildungsweise und in aller Stille eine greifbare Welt zu erschaffen, ist ein Wunder für sich. So weit, so schön.

Ein lebendiger Vortrag aber, mit äußerer Stimme, kann die phantastischen Wirkungen des lautlosen Lesens sogar noch bei weitem übertreffen. Was braucht es für ein solches Überwunder? Einerseits den Zuhörer, also einen Menschen, der zeitlich und seiner inneren Sammlungsfähigkeit nach (noch) dazu in der Lage ist, unzerstreut von den Eindruckszumutungen unserer Zeit jemandes anderen Stimme sinn- und poesieerfassend zu lauschen. Und andererseits braucht es diesen anderen, den Vortragenden. Will der dem Text die in ihm liegende poetische Kraft entlocken, so muss er sich vorweg mit ihm beschäftigen. Er muss jeden Stimmungston des zu Erzählenden auszuloten trachten. Er muss die auftretenden Figuren zu charakterisieren suchen. Vor allem aber muss der Vortragende eines tun: Er muss jenes Rhythmusgefühl beherrschen, das man heutzutage (und nicht ungelungenerweise) das "timing" nennt.

Niemand deutscher Zunge konnte das - nach (nicht nur) meiner Überzeugung - besser als Gert Westphal (1920-2002), den sie nicht umsonst den "König der Vorleser" nannten. Wer sich in dessen baritonale Erzählstimme einmal verliebt hat, der will nie mehr aufhören, ihr zu lauschen. Nicht vermag ich mehr anzugeben, wie viele Abende sie mich tagtröstend in den Schlaf begleitet, wie viele Wagenfahrten sie mir spannend, berührend, erheiternd verkürzt hat! Und, iwo! Es bereitet mir durchaus keine Langeweile, dass ich über die Jahre immer wieder dieselben Geschichten höre, wie es doch auch nicht Überdruss macht, ein geliebtes Stück Musik im Laufe eines Lebens immer und immer wieder zu hören. Denn im Ende ist das Erzählen Gert Westphals pure Musik. Was für ein Stimmungsreichtum! Er moduliert, nuanciert, hebt und senkt Lautstärke und Tonlage andauernd, kurz: Er singt.

Und welch ein Glück für mich, dass Gert Westphal Thomas Manns Geschichtenbücher offenbar ebenso so sehr liebte, wie ich es tue. Vieles davon hat er eingelesen. Bevor ich ihn das erste Mal hörte, hatte ich vermeint, Thomas Manns Literatur zu kennen. Mitnichten! Keine Ahnung hatte ich gehabt! Erst als mir Gert Westphal das vermeintlich Altbekannte vorlas, begann ich zu begreifen. Und habe bis heute nicht aufgehört, zu begreifen zu beginnen. Und möchte nie mit diesem Beginnen an ein Ende kommen. Ich will damit nicht fertig werden, zu keinem Schluss kommen.

Dass ich Thomas Manns heiteres, modernes und erzgescheites Werk unter meinen Generationsgenossen für verkannt fürchte, habe ich in diesen Blättern schon einmal behauptet und - in putziger Schrulle - erklärt, es sei meine Pflicht, "mit heiligem Ernst zu plädieren gegen ein weitläufiges Vorurteil". Och Gottchen, wie süß!

Jetzt mag ich freilich den Beweis für jene meine großmächtigen Behauptungen antreten. Wie das? Indem ich darum bitte, mir zuzuhören bei meinem Versuch, das Heitere, das Moderne und das Erzgescheite bei Thomas Mann ans Tageslicht zu befördern.

Gelingt mir das? Ich weiß es nicht. Da und dort möglicherweise. Halb und halb. Vielfach sicher nicht. Mein Tun ist und bleibt eben dilettantisches Stückwerk, auf das, nachdem es erzeugt, sein Hersteller mit ein wenig heiterer Beschämung niederblickt. Ich bewahre mir aber immerhin die Hoffnung, dass meine Versuche eines wenigstens machen könnten: neugierig, neugierig auf die Perfektion des Gert Westphal

Niemand soll es mir bitte verargen, dass ich meine Freude an diesem Kunstwerk teilen mag. Daran ist übrigens nichts Missionarisches. Denn Gott sei es gedankt, dass nicht alle das Gleiche lieb haben. Daher weiß mein Mitteilungsbedürfnis nur zu gut um die wahrscheinliche Unübertragbarkeit dieses Privatglücks an die meisten anderen. Wen das Nachfolgende also kalt lässt, der möge es schlicht sogleich abdrehen. Er wird seine guten Gründen dafür haben. Wenn da aber nur ein einziger Mensch im Erdenrund wäre, der von diesen Erzählungen durch ihre hiesige Darbietung Abgewinn in sein Leben mitnehmen kann, dann wäre ich, dann wäre der Dattinger, dieser schrullige Zeitgenosse, dann wäre er hochbeglückt.

So hört nun zu, oder tut es nicht! Beides geschähe mit gleichem Recht.

Wer dabei aufhorcht, wem dies alles also etwas bedeutet, dem hätte der Dattinger (über geäußerten Wunsch) die große Ehre, diese Hörbücher - natürlich vollends unentgeltlich - auch je als CD-Album oder als Dateien für handelsübliche elektronische Abspielgeräte überreichen zu dürfen. Denn tiefer stehend angeklickt strömen die Wortelaute bloß unkonservierbar und in minderer Tonqualität aus literarischer Wolke herab.

Graz, im Dezember 2012

Kurt Dattinger eh.

 

Mario und der Zauberer - ein tragisches Reiseerlebnis (Thomas Mann 1930, gelesen von Clemens Strauss 2012)

Thomas Mann erzählt uns eine im Grunde simple Geschichte. Ihre Dynamik, Spannung, Anschaulichkeit und Beobachtungsgabe für das Rätselwesen Mensch allein würde freilich schon genügen, diese Kurzgeschichte zu den besten von der Welt zu rechnen. Wer aber genau hinhört und sich vergegenwärtigt, wann diese Geschichte erschienen ist (nämlich 1930), der wird in ihr überdies eine an Gescheitheit kaum zu überbietende Analyse desjenigen politischen Systems erkennen, das im vergangenen Jahrhundert sein Schreckenshaupt über der Welt erheben sollte. Und es ist schier unglaublich! Selbst das Ende der Story darf uns Heutigen als wahrsagerisch erscheinen! Denn was dem Zauberer, der in ihrem Titel steht, geschieht, sollte seinem realen Vorbilde im Ergebnis am 28. April 1945 tatsächlich widerfahren! Das ist natürlich purer Zufall und keine echte Prophetie. Manche Zufälle geschehen aber, wie man den Eindruck gewinnt, nicht von ungefähr. Diese Koinzidenz macht vielmehr die Ausleuchtung des Unwesens, von dem in der Geschichte zwischen den Zeilen die Rede ist, nur umso hell- und voraussichtiger.

 

Tristan (Thomas Mann 1902, gelesen von Clemens Strauss 2010)

Thomas Mann erzählt uns burlesk von der Kollision eines kränkelnden, lebensfremden Künstlertums mit der Potenz lebenstüchtiger Gesundheit. Wird hier Partei ergriffen für eine der beiden Seiten? Mitnichten! Beides wird gleichermaßen verhonepipelt. Und an beidem wird das Liebenswerte, wird die unveräußerliche Würde und das unverbrüchliche Existenzrecht gezeigt. Von beidem war so viel in dem, der das schrieb, Thomas Mann selbst. Und von beidem ist, heute nicht weniger denn je, in uns allen.

 

Wer einen kurzen Einblick - oder sollte man sagen "Einhorch"? - in die Perfektion von Gert Westphal erlangen will, der folge übrigens diesem Link.

Weitere Beispiele der Stimmpoesie Gert Westphals, die an ausgewählten Stellen der Romane "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" und "Joseph und seine Brüder" sowie aus "Tristan" allen Humor und alle Rührung hervorbringen, die darin leben, findet man hier. Dazu hat der Dattinger - aus Anlass der Enthüllung einer ihm von seinen Eltern am 05. Juli 2013 geschenkten Thomas-Mann-Büste - das hier zu Erklickende kommentiert.